…Künstlerin und Künstler unterlegen ihren Arbeiten eine Art Bauidee, die sie gestalterisch im Legen und Fügen, Schichten und Stapeln ihrer Materialien umsetzen. Zur Bauidee gehört ein gutes, aber kritisches Verhältnis zur Statik. Sie ist schließlich ausschlaggebend für jedes System, das einem Bauplan folgt, der unter Gravitationsbedingungen realisiert werden will. Während die Architekten vornehmlich an der Stabilität der auf ruhende Körper wirkenden Kräfte interessiert sind, haben Andrea und Nikolaus Kernbach mehr deren Instabilität im Sinn. Ihre Fragen lauten: Wo liegt der kritische Punkt beim Schichten und Stapeln? Wo ist die Systemgrenze? Wann kann das System kippen und kollabieren? Wann sind Neigungsspannungen überreizt? Wann genügt ein Fingerschnipsen, damit das passiert, was Loriot in seinem ›Das Bild hängt schief‹-Sketch so luzid persifliert hatte? Also der Systemcrash!
Hinter diesem Spiel der Schieflagen, dem Spiel mit Labilität und Stabilität steckt eine durchaus anthropologische Lehre vom Gleichgewicht der Kräfte, im weitesten Sinne der Balance. Demzufolge sind alle Systeme elastische Einheiten, die, um sich zu erhalten, ein adäquates Verhältnis von stabil und labil eingehen müssen. Dieses Verhältnis heißt ›Dynamik des Systems‹ und ist auf künstlerisch- gestalterischer Ebene wie uns die Kernbachs zeigen materialgebunden.
So hat Andrea Kernbach ihr Bild für diese ›Dynamik des Systems‹ gefunden, indem sie Papplagen zu Türmen stapelt, bis die Statik eines jeden Turmes ausgereizt ist und er bei der nächsten Lage kippen würde. Nikolaus Kernbach hat sein Bild für diese ›Dynamik des Systems‹ gefunden, indem er Steinlagen an ihren Bruchstellen minimal versetzt schichtet und so eine ›kippelige‹ Situation seiner Aufbauten provoziert. Noch eine Lage mehr, und der Basisbruch wäre da.
Die Arbeiten im Erdgeschoß sind weder Säule noch Pfeiler, auch keine Stelen oder Obelisken. Sie sind an ihre Bruch- bzw. Kippgrenze gebrachte Stapel, die ihre Labilität auf uns Betrachter überspringen lassen. Wer will da nicht mal hinfassen und abwarten, was passiert? Aber Vorsicht: Was schief aussieht, kann auch schiefgehen.
Die 7-teilige Gruppe im Erdgeschoß macht auch noch etwas anderes deutlich. Hier geht es nicht nur um das Inklinative, also um den Neigungsfaktor des einzelnen Objekts. Denn dadurch, dass die sieben Arbeiten so eng zusammenstehen, erzeugen sie so etwas wie eine Gruppenmagnetik. Sie wirken wie einander zugewandte, ja, konspirative Elemente, eine Art soziale Peer Group, bei der die Einzelneigung gruppenmäßig schon als Zu-Neigung gedeutet werden kann und das System starkmacht. Damit wird eines sehr deutlich: Viele Schieflagen erzeugen erst im Kollektiv den ultimativen Zusammenhalt. Ist das etwa nicht menschlich?!
Seit einigen Jahren intensivieren Andrea Kernbach und Nikolaus Kernbach ihren Auftritt als Künstlerpaar. D.h. sie denken sich ihre Projekte gemeinsam aus und finden gemeinsam gestalterische Lösungen für ihre Ideen. Dabei verwischt sich die früher praktizierte, strikte Materialtrennung. So sind seit 2004 auch Arbeiten auf fotografischer Basis möglich. Wir sehen sieben solcher Flyer im Treppenaufgang. Jeder dieser Flyer zieht die Betrachter in einen anderen Fluchtpunkt, sodass sich die ganze Wand dahinter aufzulösen scheint bzw. immer wieder aufs Neue schiefgelegt wird.
Der Gipfel der Destabilisierung aber findet hier in der ersten Etage statt. Für ihre Ausstellung in der Akademie hier in Weingarten haben sich die beiden Künstler zur Realisierung ihrer Hauptarbeit erstmals für eine Holzkonstruktion entschieden. Sie ist betrachtbar und begehbar und vielleicht nicht auf Anhieb begreifbar. Die 3-teilige Installation soll, laut Ausstellungstitel, etwas in Schieflage bringen oder auf eine Schieflage aufmerksam machen. Aber was? Den Flur, die Betrachter, etwa die katholische Kirche? Zunächst unterscheidet sich die Holzkonstruktion entscheidend von einem museal aufgestellten Kunstwerk. Sie ist nämlich an den Installationsort gebunden. D.h. diese Konstruktion ist eine Installation, die eigens auf die Raumverhältnisse dieses Flurabschnittes reagiert; ja, sie durch drei richtungsändernde Schieflagen sozusagen in einen Schlingerkurs verwandelt. Dabei ließen sich die Kernbachs von dem Gedanken einer Art Innenraum-Tomografie leiten. Der architektonische Flurraum soll dabei den 3-dimensionalen Rahmen bilden. Sein Innenraum wird nun durch neue Schicht- und Schnittverhältnisse definiert und in drei Schritten aus dem Lot, ja, aus seiner Fassung gebracht, fast wie ein Containerschiff nach schwerem Seegang. Mit der so erreichten Schieflage der Raumverhältnisse werden Balance und Symmetrie gestört und destabilisiert. Jetzt spielen wieder Neigung und Gefälle, also das Inklinative, eine Rolle. Der Flurraum wird schiefgelegt, oder, will man es auf Latein, der Raum wird pervertiert. Und das optische Ergebnis? Jetzt hängt das Bild, das wir von diesem Innenraumabschnitt hatten, wirklich schief. Aber anders als bei Loriot können wir hier nicht eingreifen, wir sind gezwungen zu begreifen. Begreifen aber können wir, wenn wir wieder die ›Lehre des Gleichgewichts‹ und die ›Dynamik des Systems‹ betrachten, die schon in den Arbeiten im Erdgeschoß angelegt sind. Und wir haben einen entscheidenden Vorteil. Die Installation ist begehbar. Wir können uns also physisch selbst in Schieflage bringen, können uns schräg und schäps, verdreht und töricht, schief und verquer fühlen. Das aber funktioniert nur, solange der optische Bezugspunkt der orthogonale Flurraum mit seinen Rahmenbedingungen bleibt. Wer sich jedoch raum- und seinsvergessen in eine solche Schieflage bringt, kann diesen Außenpunkt aufgeben. Ist nämlich der Bezugspunkt das System der Schieflage selbst, verlagert sich die Schieflage in den Außenaspekt; mit anderen Worten: jetzt hängt auf einmal der Flurraum schief. Jede Schieflage ist also abhängig davon, auf welches System man sie bezieht, man kann sagen: eine Definitionssache zwischen Ordnung und Chaos.