Nikolaus Kernbach beschäftigt sich mit der Oberflächenstruktur und den Kanten von Steinen, die er in den Jahren davor im bildhauerischen Sinne bearbeitet hat. Dabei handelte es sich vorwiegend um geschichtete Platten, die zu einer plastisch-skulpturalen Arbeit verbaut wurden. Einige dieser Arbeiten sind nun in der aktuellen Werkphase wiederum Quelle für einen anderen gestalterischen Umgang und einen, wie wir sehen werden, vordergründigen Genrewechsel, denn es entstehen Zeichnungen der ganz besonderen Art.

Der Künstler ist aus seinem Selbstverständnis heraus zwar Bildhauer und arbeitet seit vielen Jahren fast ausschließlich mit Gneis, der in einem Steinbruch bei Arvigo im Graubündener Calancatal abgebaut wird. Er verlagert aber die auf Masse und Volumen abzielende, bildhauerische Sicht nun in die Projektion und arbeitet jetzt aus bildhauerischem Impuls heraus in der Fläche. Der Gneis, der von Nikolaus Kernbach nie klassisch behauen, sondern einem künstlerischen Prozess unterzogen wird, der sich aus den Variationen von Spalten, Brechen und Schichten ergibt, bleibt nicht Endresultat, sondern wird Ausgangsmaterial für einen weiteren Umgang, der Handdrucktechnik und Zeichnung kombiniert, also weder reine Druckgrafik noch reine Handzeichnung ist. Dagegen spricht nicht nur das grafische Unikat, sondern besonders die Tatsache, dass der Stein während der Entstehung der Zeichnungen im weitesten Sinne aktiv mitarbeitet; also geradezu zum Komplizen des Künstlers wird. Denn er stellt seine individuelle Liniengrafik dem Künstler zur weiteren gestalterischen Disposition zur Verfügung. Daraus ergeben sich zwei energetische Trägerschaften der kreativen Arbeit. Während Nikolaus Kernbach die kinetische Seite übernimmt, liefert der Stein die potenzielle.

Schon die Arbeit am und mit dem Stein hatte Nikolaus Kernbach nicht allein plastisch-skulptural aufgefasst, sondern streng mit der Idee des Bauens verknüpft. Der Bildhauer als Architekt steht ihm näher als der Bildhauer als Bildhauer. So eröffnen sich Ansätze Schicht um Schicht, Fuge um Fuge, Kante um Kante. Schwerkraft und Balance, Statik und Konstruktion spielen eine Rolle, das Verständnis von zu Stein gewordenem Mineralischen verharrt nicht mehr in der Idee der Freigabe steingewordener Ideen. Vielmehr funktioniert der bearbeitete und zu bearbeitende Stein als modulgewordene Quelle einer speziellen künstlerischen Bauidee. Der rechte Winkel dominiert dabei jeden sphärischen Ansatz. Hier spielen orthogonale Strukturen und die Kombinatorik ihrer Masse- und Volumenverhältnisse zu komplexen Gebilden oder Agglomerationen eine ähnliche Rolle wie in der Architektur, bis auf die schlichte Tatsache, dass sie nicht ihre Bewohnbarkeit im Auge hat.

Nach langer Zeit des schichtweisen Bauens in diesem Sinne, verfolgt Nikolaus Kernbach in seinen aktuellen Zeichnungen Möglichkeiten, den Stein selber ins Zeichnen zu bringen. So muss er als Künstler und Impulssetzer in einem selbstbefreienden Sinne nur noch Maieut, also ›Geburtshelfer‹ sein. Unter diesem Aspekt zielt die Fragestellung mehr auf das Vermächtnis von Stein und nicht mehr so sehr auf das Material des Gesteins. Es geht um die Frage nach dem Selbstverständnis der plastisch-skulpturalen Arbeit, nachdem sie ihr Selbstverständnis als bloßen Stein aufgegeben hat. Der Dokumentsinn der Skulptur ist gefragt, wird aus seiner Ästhetik herausgelöst und für einen neuen ästhetischen Zusammenhang vorbereitet. Dieser Dokumentsinn des gestalteten Steins gibt Auskunft über das Archiv der zeichnerischen Anlagen, die in ihm schlummern und jetzt eine Neubestimmung suchen. Und letzten Endes geht es um das Erkennen des Archiv-Planes, der dem gestalteten Stein innewohnt. Dieser Plan ist nicht der Plan des Bauens, der zur plastisch-skulpturalen Arbeit geführt hat. Dieser Plan hat sich erst durch das Bauen ergeben. Pathetisch ausgedrückt: dieser Plan ist die Seele, die Aura, vielleicht sogar das Pleroma (die zur Disposition stehende, potenzielle Ausdrucksfülle) des gestalteten Steins. Mit seinen Zeichnungen befreit Nikolaus Kernbach genau diesen Plan, der nach dem Bauplan kommt, durch eine grafische Technik, die nun den Stein selbst sprechen lässt. So gibt dieser Maße und Maßverhältnisse preis, erzählt von seinen Umfängen und Zusammenhängen, schreibt sich in projektiver Form fort, wird Liniendiagramm von Aspekten seiner Anlagen. Und er steht auf der grafischen Ebene für einen Umbau zur Disposition.

… Die plastisch-skulpturale Arbeit hat ihren innewohnenden Plan an eine gestaltete grafische Option weitergegeben. Von nun an ist dieser Plan als autonome Zeichnung gleichzeitig auch die Visitenkarte der Skulptur. Und Nikolaus Kernbach bleibt Bildhauer.

Dr. Herbert Köhler
Kunst- und Kulturpublizist
Kritisches Lexikon der Gegenwartskunst
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